II. Von den schaeden der jetzigen Kleidung

Abb. 56

Aber sofort wird das Alles zur grauesten Theorie, sobald man diesen soeben noch bewunderten Körper bekleidet sieht. Ich nehme einen antiken Torso von Seite 62 und zeichne genau über seine Konturen ein Gewand.

Ich höre den Schrei des. Entsetzens. Um Gotteswillen, wie plump. Der reine Schlafrock. Gar kein bischen Figur. Figur sagt man nämlich immer, wenn man sich nicht recht getraut zu sagen: gar keine enge Taille und keine vollen d. h. übervollen Brüste.

Und trotzdem bewunderte. man eine Minute vorher den nackten Körper.

Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? die Menschen stehen vor einem Dilemma. Ihnen gefällt durchaus der schöne Leib, aber in der bekleideten Figur gefällt er ihnen nicht. In welchen von beiden Fällen geben sie ihrem wahren Empfinden Ausdruck?

Des Rätsels Lösung ist folgende. Die grösste Macht im Menschenleben bedeutet die Gewohnheit. Man gewöhnt sich an alles, auch an das Unsinnigste; ja, und man vermisst das Unsinnigste, wenn man sich daran gewöhnt hat. Der Müller kann ja bekanntlich nicht schlafen, wenn seine Mühle nicht klappert.

Bedenke man doch: ein Menschenleben lang sieht man nichts anderes als Korsetfiguren. Wie wäre es denn dann anders möglich, als dass man sich an den Anblick so gewöhnte, dass man ihn eben für den richtigen und normalen hält: Wie viele Menschen bringen es denn soweit, sich klare Vorstellungen vom schönen und normalen Körper zu bilden? Die Menschheit bildet sich wohl ein Ideal, aber sie denkt dabei immer an den bekleideten Menschen. Und das Ideal, das sich nun jetzt herausgebildet hat, was man für den Inbegriff von „schöner Figur'' hält, sieht so aus (Abb. 57).


Abb. 57

Abb. 58

Das ist der Typus der Körper, die unsere grossen Modeblätter ihren Kostümen zu Grunde legen. Ich weiss es, die Herausgeberinnen solcher Zeitungen schütteln sich selbst vor Abscheu davor, aber der Geschmack des Publikums diktiert diesen Typus. Wir können absolut sicher sein: dieses entsetzliche Zerrbild vom Menschenleib ist das Ideal des weitaus grössten Teiles der Menschheit.


Abb. 59

Abb. 60

Ich ziehe die Konturen des Körpers nach, wie er hierbei unter der Kleidung stecken müsste (Abb. 58).


Abb. 61

Dies der entsprechende Körper. Man wird lachen und meinen, das gäbe es doch wohl kaum. Mag sein. Aber es ist das Ideal, dem mit allen Mittel näher zu kommen die Mehrzahl der Frauen bestrebt ist. Und leider, der Mann trägt vielleicht hieran die Hauptschuld. Dass sich übrigens die Zeichnung dieses Idealbildes so weit von der Möglichkeit entfernt, kann ich nicht finden. Die thatsächliche Annäherung ist sogar viel stärker, als es so ohne weiteres aussieht. Vergegenwärtige man sich nur, was für Korsets überall in den Schaufenstern stehen. Ist es anzunehmen, dass diese Sachen nur zur Zierde der Auslagen gemacht und nie gekauft würden? Zur allgemeinen Erbauung konfrontiere ich ein solches mit einem Torso und einem normalen Körper (Abb. 59, 60, 61). Es steckt etwas vom Wahnsinn in dem Bestreben, das dem Korsetgedanken zu Grunde liegt.

Betrachte man jetzt die Abb. 62. Man wird gestehen müssen, dass diese Figur doch eine bei uns in keiner Weise auffallende Erscheinung ist. Es ist das, was man unter mässigen Ansprüchen an Taille durchaus als „Normalfigur" bezeichnen würde. Im Gegenteil: eine Figur, die nicht so ist, müsste auffallen.


Abb. 62

Ich zeige nun ein Bild, in dem die Oberkleidung abgelegt ist. Die Dicke des Stoffes, der Pelz des Besatzes verschleierte die Form des Rumpfes.

Und nun denke man sich die Umrisse des Körpers, wie er jetzt unter dieser Hülle steckt. Ich ziehe aufs Genaueste die Umrisse nach und rechne dabei von der Breite der Hüfte noch ein gut Teil für die Rockdicke ab (Abb. 64).

Das Resultat ist evident. Nur zur noch deutlicheren Anschauung füge ich einen normalen Umriss bei (Abb. 65). Legte die Betreffende die Kleider ab, so würde der Körper natürlich nicht diese zusammengepresste Lage behalten, sondern der Rippenkorb würde sich ein Stück wenigstens wieder ausdehnen. So bekommen die Betreffenden den Zustand ihres Körpers selbst, wie er in den Kleidern steckt, gar nie zu sehen. Und ich erinnere daran: in den Kleidern war dieses Beispiel durchaus kein auffällig verschnürtes Individuum.

Um diese Thatsache der Anschauung einzuprägen, gebe ich dasselbe Resultat noch einmal in andern Bildern. Auch hier wird man sehen, wie weit der verschnürte Körper (Abb. 64) sich vom normalen Körper (Abb. 65) entfernt und wie weit der bekleidete (Abb. 6 3 ) noch einmal vom verschnürten. Und doch wird Niemandem ohne weiteres der bekleidete Körper als etwas Auffallendes erscheinen, und die Trägerin des Kleides wird sich heftig gegen die Behauptung wehren, ihr Gewand sei ihr auch nur „eng".

Hat überhaupt schon jemand einmal in seinem Leben eine Frau gesehen, die zugegeben hätte, die Form ihrer Erscheinung sei durch Zusammenpressung entstanden? Und die nicht beständig versicherte: mein Korset ist ganz lose, ich bin eben so gebaut.


Abb. 63

Ich glaube nie an dieses „lose". Sie nennen es nämlich lose, wenn man eben zur Not noch den kleinen Finger dahinterzwängen kann. Aber gut. Nehmen wir an, dass thatsäch lich die Mehrzahl das Korset „lose" trägt. Darauf müsste die Frage folgen, ob überhaupt an dem Oberkörper ein Druck entstehen darf.

Nicht das thut not, dass die Menschheit erkennt, dass hie und da eine Frau sich schnürt, sondern dass die gesamte herrschende Frauentracht eine starke Veränderung des Körpers herbeiführt; dass nicht ein Feldzug gegen einzelne extreme Fälle gemacht werden muss, sondern dass das Prinzip, auf dem sich unsere gesamte Frauenkleidung aufbaut, ein sinnloses ist.

Abb. 64 Abb. 65

Abb. 66

Abb. 67

Abb. 68

Vergegenwärtige man sich genau das Verhalten des Skeletts. Der Rippenkorb enthält die Lungen und seine Beweglichkeit bezweckt die Erweiterung des Raumes zum Einatmen, während die Verengerung das Ausatmen besorgt. Man muss sich diesen Vorgang etwas mehr verdeutlichen. Die Rippen bilden ein System von Knochen, die etwa wie Fassreifen angeordnet sind. Hinten sind sie an der Wirbelsäule befestigt, vorn an dem Brustbein, nach den Seiten zu sind sie herabgesenkt. Nun geht die Atmung ungefähr so vor sich, wie man sich nach dem Schema Abb. 69 vorstellen muss. Die schwarzen Linien bedeuten die gesenkten Rippen. Hebt sich nun durch seine Muskulatur der Rippenkorb, so drehen sich die Rippen in ihren Knorpelscharnieren bei C und nehmen etwa die schattierte Lage an. Es leuchtet doch wohl ein, dass damit die Brustwand nach aussen gedrängt wird, und der Lungenkorb sich bis zur Linie B erweitert. Um soviel, als sein Volumen zunimmt, strömt nun Luft zu, welche in, den, Lungen verbraucht wird. Zieht sich der Brustkorb wieder zusammen, so strömt die verbrauchte Luft wieder aus. Diese Er weiterung des Brustkorbes bis zu seiner unteren Basis darf nicht, erschwert oder gehemmt werden, wenn die Atmung nicht darunter Not leiden soll. Die heutige Frauenkleidung legt aber einen unzerreissbaren Ring um diesen unteren Teil des Rippenkorbes, den die Muskulatur nicht sprengen kann. Die Folge ist, dass nur noch die oberen Rippen arbeiten können und jene berüchtigte Atmung der Frauen ein tritt, die nur noch oben in den Lungenspitzen recht stattfindet. Es wird für den einigermassen Verständigen ebenso ohne weiteres ersichtlich sein, dass sogar dehnbare Kleider sich an diesen unteren Teil des Rippenkorbes nicht anlehnen sollten, denn die Muskelkraft, die für die Dehnung des Kleides verbraucht wird, geht der Atmung verloren.

Aber noch etwas: Der Rippenkorb bildet in seiner Gesamtheit ein elastisch federndes Gehäuse, das durch äusseren Druck leicht auf einen weit geringeren Umfang zusammengedrückt werden kann, als die ausgeatmete Stellung allein es herbeiführt. Da unter dem Gehäuse, dem Rippenkorb, nur weiche Eingeweide liegen, geben auch diese ohne weiteres dem geringsten Druck nach. Nur so ist überhaupt die starke Veränderung der Form durch Kleider zu verstehen. -- Anfangs kehren die Rippen nach Beseitigung des Druckes in ihre ursprüngliche Lage zurück; wird aber ein auf die Rippen oder Eingeweide drückendes Kleidungsstück zur Tracht, so nehmen schliesslich die Organe die ihnen aufgezwungene Form und Lage an, und diese wird eine bleibende.

Hier in Abb. 70 ist das Skelett eines verschnürten Mädchenkörpers abgebildet. Es ist nicht schwer, durch den Vergleich mit einem gesunden Rippenkorb (Abb. 65, 68) sich die Wirkung des Korsets auf ihn klar zu machen.

Abb. 69 Abb. 70
Abb. 71 Abb. 72

Hier zwei Abbildungen von Mädchen, an deren Körperumriss man ablesen kann, dass eine solche Veränderung des Rippenkorbes durch das Korset bei ihnen statt gefunden hat. Es sind beides durchaus keine extremen Fälle, sondern es sind Berufsmodelle, deren Körper von Vielen ganz ahnungslos als Vorbild für einen schönen Leib verwendet wird und die in Kleidung eher eine über das Durchschnittsmass hinaus weite Taille zu haben scheinen. Wie nun eine recht elegant und „chic'' gekleidete Frau unter ihren Kleidern aussehen muss, dafür habe ich leider kein Anschauungsmaterial. Abb. 73 stellt einen Körper mit ebenso breiten Hüften, wie auf Abb. 71 und 72 dar, dessen Rippenkorb nicht öder nur ganz wenig verschnürt ist.


Abb. 73

Die Brusthöhle wird unter den Rippen verschlossen durch das Zwerchfell, einen flachen Muskel, der die Fähigkeit hat, sich nach unten und nach oben zu wölben. Wölbt er sich nach oben, so muss das Volumen der Lunge verringert werden, wölbt er sich nach unten, so wird es vergrössert. Dies ist ein Hauptmittel unserer Atmung: die Zwerchfellatmung.

Nun stelle man sich auch diesen Vorgang recht genau vor. Bei jedem Nachuntenwölben müssen doch die darunter liegenden Weichteile, also in erster Linie der Magen, in einer gewissen Richtung verdrängt werden. Jeder, der noch über eine richtige Zwerchfellatmung verfügt, kann sich ja beim Einatmen von diesem Vordrängen der Weichteile überzeugen. Dies macht sich am bemerkbarsten vorn unten vom Ende des Brustbeins ab, also da, wo keinerlei Knochen mehr die Eingeweide schützen. (Vergleiche Seite 35, 36.) Wenn da aber irgend ein Widerstand zu überwinden ist, so werden bei jedem Atemzuge die Eingeweide,: besonders also der Magen, gegen den Widerstand gepresst. Auch seitlich dehnt sich der Leib aus. Wir kommen da zu der Stelle der eigentlichen berühmten „Taille°°. Man sieht, es ist etwa eine Hand breit Raum zwischen Knochen oben und Knochen unten. Es bedarf doch wahrhaftig keiner besonderen Weisheit, um zu begreifen, dass sich da erst recht kein Kleidungsstück anlegen darf. Denn dieses läge dann direkt ohne jede knöcherne Trennung auf den Weichteilen, und die Zwerchfellatmung wäre unmöglich gemacht oder doch aufs schwerste gehindert.

Natürlich, dass man sich daran gewöhnen kann, das beweist uns ja das Frauengeschlecht durch die That. Man kann sich noch an ganz andere Dinge gewöhnen. Viele stört auch Schmutz nicht mehr: sie haben sich daran „gewöhnt'', und die Gewohnheit ist ihnen lieb geworden.

Es sollte uns doch zu denken geben, hier auf eine am ganzen Körper einzig dastehende Stelle zu treffen, die rings herum ohne Knochenschutz geblieben ist. Die Natur macht so etwas nicht sinnlos. Sie hätte diese Organe, die doch des erhöhten Schutzes bedürfen, nicht ohne diesen gelassen, wenn sie nicht besondere Zwecke damit verfolgte, und es zeugt von einem unglaublich verkommenen Instinkt des Menschen, dass er selbst gerade diese Schutzlosigkeit missbraucht. Es ist höchste Zeit, dass auch hier der Intellekt den „Instinkt'' ersetzt und dem gesunden Instinkt zum Rechte verhilft.

Dass die absolute Freiheit jener Stelle für die Atmung notwendig ist, sahen wir schon. Ich komme noch einmal auf die Behauptung aller Frauen zurück, dass sie das Korset lose trügen. Was ist unter diesem „lose'' zu verstehen?

Vergegenwärtige man sich das Bild einer das Korset anlegenden Frau. Ich will ganz absehen von dem wirklichen Schnüren nach Anlegen des Korsets und annehmen, sie könnte es einfach ohne besondere Kraftanstrengung zuhaken: Sie streckt sich vor allem, zieht den Unterleib ein, hebt den Brustkorb so hoch, wie ihn auf die Dauer kein Mensch halten kann und benutzt einen Moment der tiefsten Ausatmung, um die Falle über den armen überlisteten Körper zu schliessen. Sobald der Körper in seinen natürlichen Zustand zurückkehren will, presst er sich gegen den Widerstand. Das geschieht nun morgens nach der Toilette, wenn der Körper kühl und nicht blutüberfüllt ist. Und nun stelle man sich gut vor, welche Pein für den naiven, noch nicht von der Korsetgevnohnheit betharten Körper es ist, wenn er im Zustand lebhafter Thätigkeit, körperlicher Anstrengung, Erhitzung, ringsum unausdehnbar umschlossen ist. Eine hübsche Vorstellung, wie gepresst, gefaltet, überhitzt und gequält der Körper einer im Korset tanzenden Frau sein muss. Und zu diesen Gelegenheiten wird ja bekanntlich das Korset besonders weit getragen! Und zudem, weiss denn nicht jedes Kind, dass der Unterleib auch nach dem Essen an Volumen gewonnen hat, nicht nur beim wüsten Aufschwellen des Magens durch Unmässigkeit, sondern nach jedem ganz normalen Mahle. Wenn eine Kleidung diese Ausdehnung verhindert, so bleiben bloss zwei Möglichkeiten: entweder die Nahrungszufuhr leidet Not oder die Ausdehnung lokalisiert sich am falschen Orte, wieder ein Grund mehr für den dicken Unterleib der Frauen. Es ist eine den Anatomen bekannte Thatsache, dass der Magen unter solchen Einflüssen der Kleidung andere Formen annimmt. Man mache sich doch nur einmal klar, wie viel stärker die Wirkung eines auch noch so schwachen, aber andauernden Druckes ist, als die eines viel stärkeren akuten. Für eine kurze Zeit kann man einen Arm oder ein Bein so stark abschnüren, dass jegliche Blutzufuhr verhindert ist; die Organe nehmen von selbst ihre alte Form wieder an. Durch den geringen, aber monatelang dauernden Druck eines Bandes kann man zwei Zähne aneinander schieben oder eine Furche in einen Knochen schnüren. Dass solche Veränderungen an Organen wie Magen, Leber, Milz etc. diese nicht widerstandsfähiger machen, ist klar. Aber es giebt ja bekanntlich keine unterleibskranken Frauen!

Die Wirbelsäule biegt sich wie ein Rohr bei Bewegung des Rumpfes, da ihre Gelenkigkeit aus der Addition der kleinen Bewegungsmöglichkeiten zwischen vielen Einzelwirbeln entsteht. Am meisten natürlich zur Bewegung frei sind die sieben Lendenwirbel, deren Einwärtskrümmung bei der Vorwärtsbeugung des Rumpfes vollkommen in eine Auswärtskrümmung übergehen kann. Bei der Vorwärtsbeugung des Rumpfes nähert sich der Brustkorb stark der Schambeinsymphyse. Wenn zwischen ihn und Becken ein steifes Kleidungsstück eingeschoben ist, so wird die Bewegung dadurch unmöglich. Man vergleiche die beiden Abbildungen (Abb. 52, 53) mit einer sich im Korset bewegenden Frau, um zu ermessen, welche Anmut der Bewegung jede Korsetträgerin aufgiebt. Eine Frau im Korset kann den Rumpf überhaupt nicht beugen, sondern beugt den steifen Rumpf wie einen Haubenstock gegen die Beine. Ein Körper ohne Korset wiegt und biegt sich wie ein schlanker starker Baum im Winde, einer mit Korset fällt um wie ein Besenstiel, den man in die Erde gesteckt hat. Wenn die Frauen auch nur eine Spur von wirklichem Geschmack in ihrer Eitelkeit hätten, so vvürden sie nie ein Korset mehr ansehen.

Aber auch mit der Einwirkung auf Rippenkorb, Zwerchfell, Eingeweide und Bewegungsmöglichkeiten ist das Sündenregister des Korsets noch nicht erschöpft. Ein weiterer Anklagepunkt ist seine Einwirkung auf die Muskeln. Durch den kontinuierlichen, wenn auch geringen Druck der Kleidung auf die Muskulatur tritt zuerst Blutleere, demzufolge mangelhafte Ernährung und Muskelschwäche ein, die sich oft bis zur völligen Atrophie steigert.

Nun durchqueren aber diese ungeschützte und gefährdete Stelle der Weichen gerade die Muskeln, die zur Aufrechthaltung des Rumpfes dienen, die langen Bauch- und Rückenmuskeln. Würde man sie durchschneiden, so müsste der Mensch zusammenklappen wie ein Taschenmesser.

Alle werden die Behauptung mancher Frauen kennen: sie hätten ohne Korset keinen Halt, bekämen Rückenschmerzen. Es ist dies das unbewusste Geständnis, dass ihre Rumpfmuskeln durch den beständigen Druck bereits derartig verkümmert sind, dass sie ihren Dienst nicht mehr verrichten können.

Eine moralische Reflexion nebenbei. Was bedeutet es denn eigent- lich, dass wir aufrechte Haltung schön finden, während doch bei einer gewissen schlaffen Haltung eine geringere Muskelanstrengung genügen würde, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Doch nur, dass wir in der durch Muskelenergie erreichten, also vom bewussten Willen abhängigen aufrechten Haltung den sinn- fälligen Ausdruck körperlicher Frische, geistiger Energie und selbst- bewusster Persönlichkeit erblicken. Was hilft es nun, wenn diese ethischen Eigenschaften bei Lichte betrachtet sich als Steifleine- wand und Fischbein entpuppen, die dann doch wiederum die Ursache sind, dass die thatsächliche Eigentragfähigkeit des Körpers degeneriert! Es handelt sich also bei dieser durch das Korset er- reichten aufrechten Haltung nicht allein um eine mehr oder min- der zu entschuldigende unrichtige Behauptung, sondern um eine Lüge, der die Strafe auf dem Fusse folgt.

Was ist nun aber thatsächlich auch für die blödeste Eitelkeit mit dieser Lüge erreicht? Eine „schlanke Figur'' denkt man. Dass das genaue Gegenteil der Erfolg ist, davon weiss man nichts. Es beruht auf einer Selbsttäuschung, wenn jemand glaubt, durch das Korset thatsächlich schlanker gewachsen zu erscheinen. Machen wir uns auch dies durch eine genauere Betrachtung klar. Erstens rein optisch. Ein jeder Gegenstand wird sofort grösser, breiter erscheinen, wenn man einen kleineren, schmaleren daneben setzt. Je enger also die Taille wird, um so breiter müssen Hüften und Brust erscheinen. Je breiter aber nun Brust und Hüften erscheinen, desto mehr wird sich der Gesamteindruck der Figur von dem der Schlankheit entfernen. Ferne rwird überhaupt jederhohe Gegenstand durch eine Querteilung niedriger erscheinen. Man denke sich nur eine griechische Säule durch eine Einschnürung in zwei Teile zerlegt. Die Summe der beiden kurzen Teile erscheint kleiner als das ungeteilte Ganze.


Abb. 75

Dies also rein zufolge optischer Täuschung. Aber auch thatsächlich verliert durch das Korset der Körper seine Schlankheit.

Wir haben gesehen: es giebt am ganzen Körper keine zweite Stelle, die so weich nachgiebt und deren Volumen sich so leicht verdrängen liesse, wie das knochenlose Stück zwischen Rippen und Darmbeinkamm, unter dem die Eingeweide sitzen. In welchem Grade hier der Körper nachgiebt, haben wir ja an den Beispielen gesehen. Aber mit dem Verdrängen verschwindet das Volumen nicht, sondern es rutscht nur wo anders hin. Und es entsteht jener abscheulich vorspringende Unterleib, der wiederum geradezu die Regel geworden ist. Wer wie ich als Maler ständig eine grosse Anzahl von unbekleideten Körpern zu sehen bekommt, kennt das. Es ist kaum möglich, Modelle zu erhalten, die diesen hervorgetriebenen Unterleib nicht besässen.


Abb. 76

Das ist wiederum einmal eine jener geradezu schreienden That sachen, die offen den Augen aller Welt darliegen und die trotzdem kein Mensch zu sehen scheint. Sage man einmal den Menschen, Männern sowie Frauen, fast alle erwachsenen weiblichen Wesen hätten hervorgetriebene Unterleiber und müssten sie haben, so lange sie unsere übliche Tracht trügen, so wird ein Schrei der Entrüstung, der Empörung über solch eine unsinnige, ja frivole Behauptung entstehen. Und es bedarf doch nicht mehr, als nur einen Tag lang einmal die Augen gut aufzumachen, um die Richtigkeit der Behauptung einzusehen.

Man betrachte Abb. 74, Niemand wird sagen können, dass die Dargestellte ein für den Massstab der Gewohnheit irgendwie extrem verschnürtes Individuum sei. Keinem Menschen würde dieses Wesen irgendwie auffallen, da es sich so durchaus im Durchschnitt der Erscheinungen hält. Nun betrachte man die Abb. 7 s. Wenn man sich die Mühe giebt, die Weite der engsten Stelle des Oberkörpers unter dem Rippenkorb zu messen und mit der der bekleideten Figur zu vergleichen, so wird man zunächst sehen, dass die Breite beim nackten Körper grösser ist, als beim bekleideten, dass also trotz dieser unauffälligen Erscheinung im Korset der Körper um ein erhebliches zusammengedrückt worden ist und sich nach dem Ablegen der Kleidung wieder ein Stück ausdehnte. Allerdings nur ein Stück. Denn die Lagerung der Körperteile ist auch hier schon eine chronische geworden, der Brustkorb ist an seiner unteren Oeffnung zusammengedrückt und die vielbesprochene knochenlose Taillenstelle etwas verengt. --- Doch ist es hier nicht dieser Punkt, auf den die Untersuchung dieses Modells hinauslaufen sollte, sondern dieser Hinweis sollte nur zeigen, dass wir es mit einem in keiner Weise über den mildesten Durchschnitt hinaus verbildeten Körper zu thun haben. Ein Vergleich mit unsern andern Bildern wird das zeigen. Ich bin sogar überzeugt, dass ein ungeübtes Auge den Körper für normal halten würde.

Man besehe sich nun die folgende Abb. 76, bei der dasselbe Individuum in halber Drehung des Oberkörpers erscheint. Auch hier wieder wird die Abbildung im Korset in keiner Weise ein auffallendes Bild ergeben. Nehmt auf der Strasse hundert beliebige Frauen, und alle werden fast ohne Ausnahme zum mindesten denselben Anblick zeigen (von eigentlich dicken Personen dabei noch ganz abgesehen).

Dann erst betrachte man die nebenstehende Figur, in der die Kleidung abgelegt ist. Sie ist erstaunlich hässlich für jeden, der mit Vorstellungen von schönen Menschenkörpern begabt ist. Und doch ist sie kaum etwas anderes als der bessere Durchschnitt. Es ist gar nicht einmal notwendig, die Praxis eines Malers zu berufen, der jährlich hunderte von nackten Menschenkörpern mit Beobachtung der hier in Frage kommenden Dinge betrachtet, sondern ein einfacher Blick auf die Strasse kann hier belehren. Sobald diese äussere Form, die die Figur im Korset hat, da ist, kann man doch mit Recht darauf schliessen, dass sein Inhalt dieser äusseren Form entspricht: Denn solche wunderliche Heilige giebt es doch wohl nur in geringer Anzahl, die in der Meinung, dadurch ihre Schönheit zu heben, sich einen Bauch — ausstopfen! Vorgekommen sein soll es auch schon.

Abb. 77 Abb. 78
Abb. 79 Abb. 80

Abb. 81

Der Vollständigkeit halber füge ich noch denselben Vergleich im reinen Profil an und setze daneben je einen normalen Frauenkörper (Abb. 78, 81). Wem dabei nicht die Augen aufgehen, der muss entweder sehr dumm oder sehr verstockt sein.

Ich weiss recht gut, dass man dies Jahr nach der neuesten Pariser Mode keinen Bauch trägt. Was dieser neuste Unfug zu sagen hat, darauf komme ich auf Seite 98 zu sprechen.

Es existiert die Behauptung, dass eine solche hässliche Form des Unterleibs eine notwendige und nicht zu vermeidende Folge von Geburten sei. Es ist dies wieder einmal einer der albernen Versuche, die Folgen der Misshandlungen unseres Körpers zur Gültigkeit eines Naturgesetzes erheben zu wollen. Wir sehen doch täglich, dass Frauen und Jungfrauen auch ohne Geburten diesen vorquellenden Unterleib künstlich herangebildet haben, und wenn sich diese Erscheinung nach der Geburt verstärkt, so ist dies nur eine neue Folge unserer üblichen Kleidung, die eben die vollkommene Lahmlegung der tragenden Rumpfmuskeln und der den Unterleib zusammenhaltenden Bauchmuskeln mit sich bringt. Wenn die Frauen doch nur einmal jene weiblichen Wesen sähen, wie die berufsmässigen Artistinnen, Turnerinnen; mit Staunen würden sie bemerken, dass denen, die ihre Muskeln gebrauchen und üben, der Vorgang der Geburt kaum etwas anzuhaben vermag, sondern der geübte Körper von selbst wieder seine früheren jungfräulichen Formen annimmt.

Abb. 82 Abb. 83 Abb. 84

Abb. 85

Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass die Kurven der Wirbelsäule ausserordentlich flache sind und gleichmässig sanft in einander übergehen (Abb. 82, 83, 85). Die hintere Profillinie eines Korsets zeigt einen Knick zwischen ihrer oberen und unteren Hälfte, der sich wie ein Rammkeil in den Körper einbohrt, besonders noch wenn in ihn hinein die Röcke geschnürt sind. Die Wirkung auf der Vorderseite haben wir schon betrachtet. Auch auf der Rückseite bleibt sie nicht aus, obwohl hier eine Knochensäule entgegensteht. Der andauernde Druck wird auch mit dem Knochen fertig und giebt der Wirbelsäule jene zu starke Krümmung, ja, jenen Knick in der Mitte, der offenbar von einem gewissen Geschmack für schön gehalten wird, da die Gesässteile dabei in besonders auffälliger Weise zum Ausdruck kommen. (Siehe Abb. 84, 86, 87.)


Abb. 86

Der physiologische Nachteil ist der, dass erstens die Tragfähigkeit der Wirbelsäule durch ihre stärker geschwungene Form abnimmt, dass ferner die gesamte Körperlänge verkürzt wird und dass drittens das Becken in eine stärkere Neigung nach vorn gedrängt wird. Das ist ein neuer Weg, durch den das Korset den Bauch unten vordrängt. Man unterschätze die Bedeutung dieser drei Punkte nicht. Wenn die Verkürzung der Gesamtkörperlänge durch Durchbiegung der Wirbelsäule auch nur eine geringe ist, so muss man doch bedenken, dass unser Auge Grössenunterschiede der Figur von ein bis zwei Centimetern ohne weiteres deutlich wahrnimmt. Man wird schon oft mit Erstaunen gefunden haben, dass der Grössenunterschied zwischen zwei Menschen, die neben einander wie gross und klein wirkten, in Wahrheit nur wenige Centimeter betrug.

Abb. 87 Abb. 88

Dem Laien ist es vielleicht nicht klar, weshalb eine Durchbiegung der Wirbelsäule eine stärkere Beckenneigung zur Folge hat. Das Becken ist mit dem untersten Ende der Wirbelsäule, dem Kreuzbein, fest verwachsen, so dass sich eine Bewegung dieses unteren Teiles der Wirbelsäule, wie sie bei einer stärkeren Durchbiegung entsteht, unmittelbar dem Becken mitteilt. (Siehe a. Abb. 20, 21.) Die Folge dieser stärkeren Beckenneigung ist die, dass die Gelenkpfanne für den Oberschenkelknochen, also der Unterstützungspunkt des Oberkörpers auf den Beinen, sich weiter nach hinten verschiebt. Dabei kommt jene seltsame vogelartige Haltung heraus, bei der die Beine scheinbar ganz hinten ansetzen, der Unterleib sich vorschiebt und aus Gleichgewichtsgründen der Oberkörper sich desto stärker nach hinten überneigen muss; eine Stellung, die dem heutigen Geschmack besonders zu entsprechen scheint. Abb. 87 zeigt sie am nackten Körper, Abb. 86 bringt eine jener beliebten Pariser Photographien von sogenannten Idealfiguren, welche zeigt, was der allgemeine Geschmack unter eleganter Körperhaltung versteht. Wie das Ebenbild Gottes thatsächlich gedacht ist, wird Abb. 88 erklären. Gerade in den feinen Biegungen und Schwingungen der tragenden Säule des menschlichen Körpers liegt die grösste Schönheit der aufrechten Haltung. Ihr Schönheitswert liegt in dem feinen Mass, das mit dem Auge geschaut Harmonie, mit dem schliessenden Verstand erwogen vollendete Zweckmässigkeit bedeutet. Zu glauben, dass man durch einfaches Vergröbern des Reizes seine Schönheit steigert, bedeutet unglaubliche Barbarei. Das Resultat ist Karikatur, wie Abb. 87 zeigt. Wessen Auge nicht mit Abscheu auf Abb. 87 und mit Stolz auf 88 ruht, dessen verrohter Sinn liegt jenseits von unseren Betrachtungen.

Es ist eine überall zu machende Beobachtung, dass das Korset Fettansatz an den Hüften hervorruft. Bei einigem Nachdenken wird dies sehr leicht erklärlich. Ein jeder Körper sucht eine gewisse Gewichtsquantität Fett anzuhäufen. Auch der magere thut dies und ein gewisses Maass Fett gehört absolut zum normalen Körper. Das ist nicht zu verwechseln mit Fettansätzen, die sich als Ueber mass kennzeichnen und die wir „dick'' nennen.

Solche zum gesunden Körper gehörige, von aussen kaum direkt erkennbare Fettansammlungen finden sich beim normalen Menschen auch in der Weichengegend. Findet nun hier der Körper einen Widerstand in der Kleidung, der ihm keinen Raum für Fettablagerung lässt, so scheint es, dass diese besonders die Hüftgegend wählt, um eine Unterkunft zu finden. Nur so sind wohl jene oft ganz unerhörten Fettansammlungen zu erklären, die sich bei sonst ziemlich mageren Korsetträgerinnen an den Hüftgegenden vorfinden. Dass das alles zur Schlankheit des Eindrucks beiträgt, kann doch niemand im Ernst annehmen.

Abb. 89 Abb. 90

Auch hier mögen Abbildungen (89, 90) zur Erläuterung dienen. Dass man es hier mit einem ziemlich stark in der Taillengegend verbildeten Individuum zu, thun hat, wird man auf den ersten Bück sehen. Nicht so auf den ersten Blick wird man vielleicht sehen, weshalb gerade hier bei einer Einengung der Taille, die an Maass vielleicht manche andere hier. mitgeteilte nicht übertrifft, der Gesamteindruck ein so abschreckend hässlicher ist. Offenbar haben hier bedeutendere Fettansammlungen um die untere Haftund Gesässgegend statt gefunden, die den Gegensatz zu der engen Weichengegend nun noch stärker zum Ausdruck bringen. Es I liessen sich hier für den, der geeignetes Material immer zur Reproduktion zur Verfügung hätte, noch weit extremere Fälle finden, Doch möchte ich hier das Interesse immer viel mehr auf die Zustände des Durchschnitts, als auf Extreme lenken, da jedermann die Verurteilung der letzteren zugeben wird, meine Aufgabe es aber ist, auf das Unhaltbare unserer allgemeinen Verhältnisse hinzuweisen.


Abb. 91

Nicht als schlimmstes Uebel, sondern nur als Anzeichen für die unsichtbar im Innern ausgeübten Verwüstungen erwähne ich die Thatsache, dass jede Korsetträgerin nach dem Entkleiden zum mindesten einen deutlichen Abdruck der Hemdfalten auf der Haut zeigt, in schlimmeren Fällen stark gerötete Furchen, ja oft blutige Striemen. Dauern diese Einwirkungen lange, so färbt sich die Haut an diesen Stellen dunkler, was durchaus übereinstimmt mit der absolut durchgehenden Beobachtung, dass bei den meisten Frauen die ganze Bauchgegend gelblich dunkel gefärbt ist. Dass dazu schon ein geringer Druck genügen kann, zeigt die Photographie eines italienischen Knaben, bei dem sie schon durch den Druck des gewöhnlichen italienischen Stoffgürtels entstanden ist (Abb. 91). Zu den erweiterten Folgeerscheinungen des Korsets, die unter diese Rubrik fallen, gehört auch die immens starke Einwirkung auf den Teint. Man braucht oft noch gar nicht den Körper einer Frau zu sehen, um zu wissen, ob sie ein Korset trägt oder nicht. Die spezifische Färbung, die das Gesicht einer Korsetträgerin annimmt, ist für den, der Augen dafür hat, gar nicht zu übersehen. Um jemand zu überzeugen, würde ich ihm zeigen, wie zwei Damen, die eine im Panzer, die andere in freier natürlicher Kleidung zusammen einen Berg hinaufgehen, Diese mit frisch geröteter Wangen, aus denen das Behagen gesteigerter Lebenskraft spricht, und jene andere, blass und blaurot zugleich, mit weissen Ringen um die Augen, nach Luft schnappend. Ich glaube, der Augenschein würde überführen.


Abb. 92

Glaubt man denn, dass die darin sich ausdrückende gestörte Blutzirkulation ohne dauernde Folgen auf I den Teint bleibt, der doch eine der grössten weiblichen Schönheiten ist? Was ist denn ein guter Teint anders, als eine gesund und gleichmässig vom Blut ernährte Oberhaut? Ein blosser Blick auf die Strasse genügt, um zu zeigen, welche Verheerungen sogar im Gesicht mit dem Korset angerichtet werden. Hat Eine eine so unverwüstliche Gesundheit, dass sie sogar das übersteht — was für ein prächtiger Mensch könnte das werden ohne Korset! ---

Hat man einmal die entsetzlichen Verschiebungen und Vergewaltigungen, die selbst ein sogenanntes lockeres Korset oder auch der Rockbund in den wichtigsten Lebensorganen anrichten, überschaut, so darf es uns nachher nicht mehr wundern, welches Heer von Krankheiten in Lunge, Magen, Milz, Nieren und Gebärorganen der Frau auftaucht. Das traurige ist, dass diese Folgen einer wahnsinnigen Kleidung auf das ganze Geschlecht übergehen, da wir ja alle vom Weibe stammen.

Ich wünschte, mein Buch erhielte ein Schwesterbuch, in dem ein Arzt zusammenfassend in populärer Form und mit dem ganzen dazu gehörigen sittlichen Ernst die furchtbare Wichtigkeit dieses Themas vom pathologischen Standpunkte aus behandelte, das ich vom ästhetischen aus betrachten muss.

Nach alledem kommt man, wenn man den Anspruch auf konsequentes Denken machen will, zu dem Schluss, dass auch beim weiblichen Körper genau wie beim männlichen, sich an den Rippenkorb und die Weichteile zwischen diesem und dem Becken kein Kleidungsstück, auch kein Gürtel anlegen darf.

Wie wohl am besten die Kleidung Halt finden kann, davon später. Zuvor möchte ich noch einige moderne Plastiken anführen, die uns davon erzählen, wie gering die Erkenntnis von dem menschlichen Körper selbst Unter Künstlern ist. Aus der Menge der hier anzuführenden Werke greife ich zwei heraus, wiederum nicht, weil sie besonders extrem wären, sondern weil sie mir gerade zur Verfügung standen. Beides sind Arbeiten, die vor einigen Jahren in Paris im Salon ausgestellt waren und viel Beachtung fanden. In beiden war es ja zweifelsohne die Absicht der Urheber, die Schönheit des menschlichen Körpers zum Ausdruck zu bringen.


Abb. 93

Man sieht hier (Abb. 92) durchaus einen Typus der Korsetfigur: den zusammengeschnürten Rippenkorb, den vorgetriebenen Unterleib, die starken Fettansammlungen um die Hüften. Die Schnürfurchen der Haut, wie sie sich am Lebenden zeigen würden, hat der Bildhauer zwar weggelassen. Rechts davon die Differenz vom normalen Körper (Abb. 93).


Abb. 94

Noch auffallender ist die Deformierung bei Abb. 94. Es gehört schon thatsächlich ein starkes Entfremden des Sinnes für die Schönheit des menschlichen Körpers dazu, wenn ein Bildhauer eine solche Form verherrlicht. Es zeigt, wie weit es gekommen ist und wie vollkommen umnebelt die Sinne der Menschheit in der Frage des Frauenleibes sind.

Deshalb hüte man sich vor der Idee, sich um Beantwortung der hier angebrochenen Fragen allein an den „Künstler" im Vertrauen auf die Autorität seines Berufes zu wenden. Denn einmal sind die, die sich durch die Arbeit ihres Pinsels ernähren oder die als Bildhauer im Adressbuch stehen, doch noch lange nicht deswegen Künstler. Aber auch bei denen, die es wirklich sind, ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass sie den richtigen Standpunkt gegenüber diesen unseren Fragen einnehmen. Die Künstler bilden das, was ihnen gefällt, was in ihren Vorstellungen lebt. Und da giebt es eine rechte Anzahl von solchen, denen eben dieses Zerrbild, diese Karikatur von Menschenleib mit der engen Taille und all das andere ganz ungemein gefällt und die unsere moderne „Pariser" Kleidung wunderschön in Ordnung finden, weil es die einzige ist, die sie aus dem Leben in ihre Vorstellung aufnehmen. Sehe man sich doch um in der bildenden Kunst — überall wird man ein unverhülltes Vergnügen an der „engen Taille" entdecken.

Es bildet Niemand etwas, was ihm nicht gefällt. Oder er bildet es zur Karikatur. Würde der Wille zum herrlich entwickelten Menschenleib in den Künstlern stecken, so würden sie ihn eben überall zur Apotheose bringen und so zu den besten Erziehern werden. Leider ist dem nicht so. Die Künstler sind genau solche Menschen, wie die übrigen auch, mit ihrer Kurzsichtigkeit, ihren Vorurteilen und ihrer geistigen Unfreiheit. Sie müssen genau so ins Schlepptau genommen werden, damit sie als Heerde den Führern nachlaufen, denn auch unter den Malern und Bildhauern sind die geistigen Führer genau so selten wie unter der übrigen Menschheit. Ueberall giebt es Zukunftsmenschen und solche, die mit dem Gesicht nach dem Rücken umherlaufen.

Leider gilt dasselbe vom Arzt, an dessen Autorität wir uns gewöhnt haben, so unbedingt zu glauben. Auch er wird durch seinen Beruf allein noch lange kein produktiv denkender Kopf, der über das passive Kennen dessen, was besteht, von selbst hinauskommt zum Erkennen dessen, was sein soll. Auch unter den Aerzten werden schaffende Geister auf dem Gebiete selten sein, was man schon an der Thatsache erkennen kann, dass die Frauen der Aerzte das unsinnige Prinzip der herrschenden Kleidung genau so mitmachen, ja die Aerzte selbst fast durchweg Stiefel tragen, die der Fussform zuwiderlaufen. Medizinische Kenntnisse und die Fähigkeit zur Vorstellung plastischer Formen sind schon zwei ganz verschiedene Dinge. Aber das Dritte ist der Wille zur Vollendung unseres Seins im Sichtbaren.

Schon manche Tollheit hat die Menschheit in den fünftausend Jahren, die wir zur Not an Kulturdokumenten übersehen können, begangen. Die Botokuden haben sich Holzklötzchen in die Unterlippe gesteckt, zur Verschönerung, die Chinesinnen ihre Füsse zu Klumpen entwickelt; gewisse Völkerschaften lieben es, sich die Zähne spitz zu feilen: Anthropologische Museen erzählen von noch seltsameren Trieben der Menschheit. Wie Fieberträume ziehen sie dem Blick des Beschauenden vorüber. Das grosse Fragezeichen, das wir vor alledem machen, um zu erfahren, aus welchen tiefsten Ursachen es geschieht, findet keine andere Beantwortung als die resignierte Bestätigung, dass eben neben all den Trieben der Menschheit, die nach Höherentwicklung drängen, immer solche nebenher gehen, die auf Selbstzerstörung zielen.

Man kann heute ja den Einzelnen nicht mehr dafür verantwortlich machen. Mit 14 Jahren oder noch früher hat dem Mädchen eine Mutter, die es gut meinte, aber es eben nicht besser wusste, das Korset angelegt; hat es vielleicht sogar gewarnt, es ja nicht „zu eng'' zu tragen — weshalb im einzelnen, das wusste sie ja selbst nicht, sondern sie hatte nur eine dumpfe Vorstellung von schädlichen Folgen einer Uebertreibung, nicht von dem unsinnigen Prinzip an sich. Halb im kindischen Spiel hat es das Mädchen einmal zum Versuch doch recht fest zugeschnürt „um auch so eine Figur zu haben wie die Mutter"; der Versuch ist zu einer Gewohnheit geworden, und der weiche Körper musste bald nachgeben. Dass der thatsächliche Erfolg allem Schönen und Gesunden Hohn spricht, davon hat man keine Ahnung, denn „alle Welt'' thut es ja. Da muss es doch wohl so richtig sein. Später, etwas zur Vernunft gekommen, hat man dann wohl auch eingesehen, dass es besser sei, das Korset „lose„ zu tragen. Aber der Eigensinn, der in den meisten Menschen steckt, lässt sie nicht zugeben, dass man unwissend eine Thorheit begangen habe, und dieser Eigensinn ist dann der Todfeind jeder Besserung.

Will man ganz gerecht sein, so muss man sich auch die Motive des Gegners klar zu machen suchen. Und man muss zugestehen: es muss für bei weitem die meisten aller lebenden Frauen von heute eine harte und furchtbare Erkenntnis sein, dass sie durch die Indolenz der vorhergehenden Geschlechter die harmonische Schönheit ihres Leibes für das ganze Leben eingebüsst haben sollen. Und rein aus toller Furcht vor der Schrecklichkeit dieser Erkenntnis werden sie immer und immer wieder einen erbitterten und verzweifelten Kampf führen gegen das Aufkommen einer besseren Einsicht, immer wieder werden sie dem, der die Wasser zu klären sucht, sie wieder trüben. Es ist im Grunde Selbsterhaltungstrieb, der sich in kopfloser Weise äussert.

Einen höheren und edleren Selbsterhaltungstrieb, vielleicht, keinen individuell persönlichen, aber einen für das ganze Geschlecht, würde es beweisen, wenn sie endlich die unabweisbare Erkenntnis annähmen, für die eigene Person retteten, was noch zu retten wäre, aber im Interesse des kommenden Geschlechtes die Grundprinzipien, ja die ganze Anschauung vom Frauenkörper mit einer veredelten und sinnvolleren Auffassung vertauschten.